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Carl Gotthard de Boor (1848-1923)

Carl Gotthard de Boor (1848-1923)
    Carl
de Boor
1810-1853
oo Auguste
Schwartze
1813-1862
       
      |          
Marianne

1840-1908
Richard

1841-1905
Bernhard

1842-1844
Wilhelm

1845-1898
Carl Gotth.
de Boor

1848-1923
oo Manon
Meyer
1854-1952
Auguste

1851-1871
 
          |      
      Wolfgang

1881-1967
Manon

1883-1967
Helmut

1891-1976
Werner

1899-1976
   
  Carl Gotthard de Boor, * 24.03.1848 in Hamburg, † 31.01.1923 in Marburg. Dr. phil., Byzantinist und Bibliothekar. Sohn des Lehrers und Juristen Carl de Boor und der Auguste, geb. Schwartze (Tochter des Gabriel Gerhard Schwartze).

Nach dem Gymnasium[1] in Hamburg kam Carl de Boor zunächst in Pension beim Ratzeburger Domprobst Johannes Rußwurm (1814-1890), wo er ab 1864 die dortige Lauenburgische Gelehrtenschule besuchte, die in jener Zeit unter dem Rektor und Theologen Christian Zander aufblühte. Die für ihn wenig glückliche Zeit änderte sich, als das Haus seines geliebten Lehrers am Gymnasium, des damaligen Subrektors Wilhelm Hornbostel (1824-1893), mit seiner großen Familie sich ihm öffnete. Der väterliche Freund wurde ihm Vorbild und die Verehrung für den Philologen hielt ein Leben lang an - noch Jahrzehnte später kehrte er immer wieder in die Ratzeburger Heimat zurück, in die Kate, dem kleinem Haus am See, zu seinem alten Lehrer, den er von allen Menschen am höchsten schätzte.

Nach bestandener Reifeprüfung ging er nach Bonn, schrieb sich im April 1868 an der dortigen Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität ein und begann ein Studium der Klassischen Altertumswissenschaft. In den folgenden 2 ½ Jahren widmete er  sich intensiv der Philologie und besuchte die Lehrveranstaltungen von Otto Jahn und Hermann Usener, die  Geschichtsseminare von Arnold Dietrich Schaefer, Heinrich von Sybel und Franz Wilhelm Kampschulte, sowie  Vorlesungen von Reinhard Kekulé, Ludwig Aegidi, Jacob Bernays, Heinrich Nissen, Conrad Varrentrapp und  Anton Springer. Bei Johannes Schmidt hörte er zusammen mit Hermann Diels, Ulrich von Wilamowitz und Carl  Robert allmorgendlich lateinische Grammatik und Sanskrit. Mit letzteren war Carl de Boor auch im WS 1868/69  Mitglied im Bonner Kreis und dem Philologischen Verein, den er jedoch kurz nach seinem Eintritt wieder verließ. 1870 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und wurde mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet, als er  in einer Schlacht bei Beaune la Rolande - nach dem Tod aller Offiziere - das Kommando übernahm und eine  wichtige Stellung erstürmte. Nach Kriegsende folgte ein kurzer Aufenthalt in Hamburg, ehe er im Herbst des  Jahres 1871 sein Studium in Berlin fortsetzte. Unter Hermann Bonitz, Ernst Curtius, Moriz Haupt, Karl Richard  Lepsius, Heinrich Kiepert und Rudolf Schoell eignete er sich weitere Kenntnisse auf dem Gebiet der  Geographie, Archäologie und des griechischen Rechts an.
Aber erst bei Theodor Mommsen reifte in ihm das Interesse für die byzantinische Geschichtsschreibung, der  er die Arbeit seines Lebens gewidmet hat. Mit der Dissertation Fasti Censorii promovierte Carl de Boor im  Januar 1873. Den Gedanken nach dem philologischen Examen noch ein Jurastudium zu beginnen verwirft er.
  C. de Boor als Student in Bonn    
Die nächsten Jahre verbrachte er mit wissenschaftlichen Reisen, bei denen er kleine Klosterbibliotheken aber
auch die großen europäischen Bibliotheken in London, Oxford, Paris oder Rom besuchte, um für seine Studien alte Handschriften zu kollationieren. Auf seinen Reisen traf er befreundete Künstler und Gelehrte, in deren Gesellschaft er den notwendigen Ausgleich für die oft ermüdenden Arbeiten fand.[2] Im Frühjahr 1879 kehrte er nach einigen Unterbrechungen schließlich wieder nach Berlin zurück.

Vorstudien über byzantinische Schriftsteller hatten - auch wenn dieses Forschungsgebiet nur am Rande der allgemein historischen und philologischen Arbeiten anderer Gelehrten lag - bei Kollegen großes Interesse erregt.[3] Th. Mommsen legte Wert auf die Erforschung dieses noch wenig in Angriff genommenen Arbeitsbereiches und hatte de Boor, seinem ehemaligen Schüler u. befreundeten Verwandten dringend angeraten diesen wissenschaftlichen Weg zu gehen.[4][5] Zunächst noch als Volontär trat Carl de Boor sechs Monate später, am 01. Februar 1880, die Stelle eines Assistenten an der Königlichen Universitäts-Bibliothek zu Berlin an. Noch im selben Jahr heiratete er Manon Meyer (1854-1952), Tochter eines Berliner Architekten und ehem. Verlobte seines früh verstorbenen Freundes Max Drewke.

1881 erhielt er durch die philosophisch-philologischen Klasse der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften das Preisgeld des Zographos-Fonds[6] für seine Arbeit zu der gestellten Aufgabe: Eine auf Grund neuer kritischer Hülfsmittel veranstaltete Bearbeitung der Chronographie des Theophanes nebst Untersuchungen über die Quellen und die Fortsetzung dieses Werkes". Mit dem Aufsatz über die Excerptensammlung des Kaisers Konstantinos VII Porphyrogennetes (1883) konnte Carl de Boor auch die nächste Preisaufgabe der Akademie für sich entscheiden.
Doch sein Interesse gilt fast ausschließlich der philologisch-historischen Behandlung einer der wichtigsten Quellen der byzantinischen Geschichte. Unermüdlich hat er an der Erforschung des handschriftlichen Materials gearbeitet und im September 1882 schreibt er aus Italien an seine Frau: Ein großes Werk hab ich eben vollendet"[7]. 1883 wird der 1. Band der Theophanis Chronographia veröffentlicht, ein Werk, das sowohl in sprachlicher wie in historischer Beziehung großer Bedeutung offenbarte und das Theodor Mommsen später als eine Meisterleistung bezeichnete.

Hatte seine genügsame Lebensweise bisher eine Forschung ohne finanzielle Sorgen ermöglicht, änderte sich dies 1885. Die Nachricht, dass sein verwaltetes Vermögen durch Spekulation und Betrug eines nahen Verwandten "bis auf den letzten Pfennig dahin sei", griff tief in sein Leben ein. Neben der Schwere des materiellen Verlustes trafen ihn jedoch die näheren Umstände darüber, die im Laufe der Jahre zu einer allgemeinen Verbitterung führten.

Am 1. Mai 1886 trat Carl de Boor die neu errichtete vierte Custodenstelle der Universitäts-Bibliothek in Bonn an, rückte aber bereits im Dezember desselben Jahres als 3. Custos auf. Nach dem Tode des Berliner Universitätsbibliothekars Wilhelm Koner (†1887) machte sich die Familie zeitweilig Hoffnung auf eine Rückkehr nach Berlin[8], die jedoch unerfüllt blieb. Gleichwohl verbrachten sie in dem Bonner Haus mit seinem großem Garten glückliche Jahre und C. de Boor konnte mit Theophylactus Simocattes (1887) und der Vita Euthymii (1888) weitere Arbeiten veröffentlichen. Erst im Sommer 1891 verließ die Familie Bonn, da Carl de Boor durch Ministerial-Erlass an die Universitäts-Bibliothek in Breslau versetzt und dort am 22. Dezember zum Königlichen Bibliothekar ernannt wurde.

Die inzwischen fünfköpfige Familie hatte das 1. Stockwerk eines Hauses in der Vorderbleiche Nr. 8 bezogen, das sich auf einer Oderinsel - der kleinen Mühleninsel (Wyspa Młyńska) - befand. Nicht weit entfernt die Sandinsel mit der Bibliothek und dem dazugehörigen Garten, der in den nächsten Jahren so oft für angenehme Zerstreuung und Erholung sorgen sollte.

Im März 1894 wurde ihm der Titel Ober-Bibliothekar beigelegt. Im Jahr darauf ging C. de Boor nach Italien, nach Rom, um im Vatikan Handschriften zu studieren. Seine Frau folgte ihm auf Einladung ihres Schwagers Wilhelm de Boor nach. Solange Carl de Boor sein Vermögen hatte, freute er sich der vollen Freiheit und ging einer Habilitation aus dem Wege. Als er um der Familie willen in die Bibliotheklaufbahn hinein musste, war er unglücklich wie ein Gefangener. Der Wunsch nach einem Leben für und in der Wissenschaft schwand mehr und mehr, sah er sein Arbeitsleben in einer Provinzial-Bibliothek doch letztlich als verfehlt.

1897 veröffentlichte de Boor das noch in Berlin ausgearbeitete Verzeichniss der griechischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin, in der "seine volle Beherrschung der Paläographie"[9] zum tragen kam.
Am 23. Oktober des selben Jahres wurde er zum Professor ernannt. Th. Mommsens Versuch auf preußischem Gebiet einen Lehrstuhl für byzantinische Geschichte einzurichten, und diesen mit de Boor zu besetzen, scheiterte am wissenschaftlichen Ansehen des Faches und so wurde die Byzantinistik erstmals in München eine universitäre Disziplin.

Im Okt. 1898 konnte C. de Boor die Arbeit an der Ausgabe des Georgios Monachos wieder aufnehmen, nachdem ihm die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine geplante Reise nach Italien, Spanien und England mit 3.000 Mk bewilligte und er diese, verbunden mit einem neunmonatigen Urlaub, noch im selben Monat antrat.[10] Während seines Aufenthaltes in Spanien bekam Ehefrau Manon ein viertes Kind, das erst nach der Rückkehr des Vaters getauft wurde und den Namen Werner erhielt. 
  Die Familie im Garten der Bibliothek, Breslau 1907/08  
                                                          Die Bewilligung weitere Gelder der philosophisch-historischen Klasse der Berliner Akademie der Wissenschaften erlaubten es de Boor im Jahr 1900 die Fortführung seiner byzantinischen Studien, insbesondere der Bearbeitung der constantinischen Excerpte. Von Oktober 1902 bis September 1904 wurde de Boor im Interesse seiner wissenschaftlichen Arbeiten fast durchgehend beurlaubt, in dessen Folge er zunächst die Excerpta de legationibus (I-II, 1903) und de insidiis (1905) abschloss und 1904 noch die kritische Ausgabe Georgii Monachi Chronicon (2 Bände) veröffentlichte. Zunehmend machten sich jedoch die Folgen seiner rastlosen Studien bemerkbar, die ihn immer häufiger zu Ruhezeiten zwangen oder die Fortführung seiner Arbeit durch Krankheit gänzlich verhinderte.
Am 1. Oktober 1909 ging Carl de Boor in den Ruhestand und siedelte mit der Familie nach Marburg über, wo sie fünf Jahre später das Haus Rotenberg Nr. 8 bezogen.[11] Hier erfreute er sich bester Gesundheit und schuf bis zu seinem Tode, am 31. Januar 1923, noch zahlreiche Arbeiten, die teils unfertig dem Mittel- und neugriechischen Seminar der Universität München überlassen wurden.
 
 
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[1] Im Schülerverzeichnis der Gelehrtenschule des Johanneums findet sich sein Eintritt im Jahr 1858.
[2] 1876 begleitete ihn der Berliner Maler und Kunstschriftsteller Ludwig Pietsch (1824-1911) auf einer Reise nach Griechenland und in Rom war er Teil eines freisinnigen Kreises, dessen Mittelpunkt der Maler Gustav Spangenberg (1828-1891) und seine Frau bildeten und mit denen er eine ganz persönliche herzliche Freundschaft verband. Ebenfalls in Rom traf er den Hamburger Maler und Zeichner Hans Speckter (1848-1888) wieder, den er schon seit seiner Jugend kannte.
[3] Carl de Boor fand in der Bibliothek des Vatikans den Originalcodex (Nr. 977), auf dessen Abschrift alle bisherigen Arbeiten beruht hatten, und konnte mit Hilfe desselben die Lücken jener Abschrift ergänzen und eine Unzahl von verderbten Stellen heilen. Aus: Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft. 1897.
[4] Theodor Mommsens Bruder Tycho (1819-1900) war mit Franziska, geb. de Boor (1824-1902) verheiratet, die eine Tante von Carl Gotthard de Boor war.
[5] Manon de Boor, geb. Meyer (1854-1952) in ihren Erinnerungen: Aus Kindheit und Jugend.
[6] Der in Konstantinopel lebende Unternehmer und Bankier Christakis Zographos stiftete 1876 die Summe von 20.000 Mark zur Beförderung des Studiums der griechischen Sprache und Literatur. Mit den Zinsen aus dem Stiftungskapital wurde jährlich bzw. zweijährlich eine Arbeit auf dem Gebiet der Sprache, Literatur, des öffentlichen und Privatlebens der Griechen im Altertum oder im Mittelalter prämiert.
[7] C. de Boor in einem Brief an die Ehefrau im September 1882.
[8] C. de Boor in einem Brief an die Ehefrau vom 5. Okt. 1887 zum Tode Koners: "Damit wirds wohl fraglos, daß sich unser Schicksal in diesem Winter definitiv entscheidet."
[9] Heisenberg, August in: Byzantinische Zeitschrift, Bände 24-25.
[10] Zunächst in Rom, Palermo, Messina und Neapel, reiste er im Feb. 1899 nach Florenz und ab März nach Madrid, Sevilla, Granada und Toledo. April bis Juni 1899 verbrachte er im Kloster Escorial bei Madrid.
[11] Das Haus Rotenberg Nr. 8 wurde 1922 zur neuen Heimat von Wolfgang und Lisa de Boor, wo u.a. das später veröffentlichte Tagebuch entstand.



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© Ulrich A. de Boor 2015